Sonntag, 28. November 2010

Ungewöhnliche Fliegerferien im ‚Relais des Routiers des airs’, August 2003

Wegen einer fast zwei Monate andauernden Hitzeperiode mit täglichen Temperaturen von über 30° C wäre die lange Autofahrt nach Südfrankreich dieses Jahr eigentlich nicht wirklich nötig gewesen. Bereits während fast des gesamten Monats Juli gelingen ab Schänis täglich Flüge von mehr als 750 km. Der erste Wendepunkt wird dabei meistens ins Wallis oder das grenznahe französische Alpengebiet gelegt, während als zweiter Wendepunkt eine Ortschaft in Tirol/Österreich umrundet wird. Verlängerungen ergeben mehrmals Spitzenstrecken von über 900 km. Es ist ein ungewöhnlicher, heisser Sommer, der uns traumhafte Steigwerte von bis zu 6.5 m/Sek. sowie Basishöhen von nahezu 5’000 M.ü.M. über dem Hauptalpenkamm beschert und uns lange in Erinnerung bleiben wird. Es dürfte der beste Segelflugsommer der letzten 20 Jahre gewesen sein.



Unglaubliche Basishöhen in den Alpen im Sommer 2003:
Vorher und nachher habe ich das Matterhorn (bei Thermikflügen) nie mehr aus dieser Perspektive gesehen. Das unglaubliche Foto ist von Dr. Hans Reis und Martin Haller auf ihrem gemeinsamen Flug von Vinon nach Schänis (und zurück) gemacht worden.

Link zum Fotoalbum Vinon 2003.

Das Plateau Valensole glüht
Die Tatsache, dass in Vinon jeweils zuerst die Inversion durchgeheizt werden muss, ist dieses Jahr im Vergleich zum Startort Schänis ein ungewohnter Nachteil. Während in anderen Jahren die Nachrichten mit Meldungen von Überschwemmungen auf der Alpennordseite voll waren, sind wir meistens in Vinon trotzdem im guten Wetter südlich der Alpen täglich lange Strecken geflogen. Dieses Jahr treffen wir andere Bedingungen an. Vor 12.30 Uhr sind trotz enormer Hitze vernünftigerweise keine Starts oder vorsichtige Abflüge über das Plateau Valensole möglich, während die Kameraden in Schänis bereits ab 10.00 Uhr über den Glarner Alpen Steigwerte von mehr als 2 m/Sek. und Basishöhen von 3'500 M.ü.M. melden. Häufig hören wir die Kameraden aus Schänis bereits in den Barre des Ecrins auf der Alpenfrequenz am Funk, während wir noch bei 40° C im Cockpit schwitzenderweise die Serre de Montdenier hinaufkriechen. Hat man die Voralpen allerdings einmal erklommen, wird man östlich des oberen Durancetals häufig mit 5.0 m/Sek. bis auf über 4'000 M.ü.M. belohnt, was dann ein schnelles Vorankommen bis ins Oberwallis in kurzer Zeit ermöglicht.

Sturmlandung in den Hangar
Die ersten beiden Flugtage, der 6. und 7. August, sind geprägt von explosiver, feuchtheisser Luft über dem Südosten Frankreichs. Mein erster Aklimatisierungsflug führt mich in der ASW-20-B bis ans Nordende des Nationalparks des Vercors, wobei ich der schlechten Sicht wegen teilweise kaum mehr weiss, wo ich genau bin. Erstaunlich ist, dass ich mich trotz GPS und guten Gebietskenntnissen nicht mehr zurechtfinde. Die Gegend um ‚Die’ ist aus 3'000 M.ü.M. kaum mehr im Detail auseinanderzuhalten, speziell, wenn es rund ums Flugzeug blitzt und donnert und die Schauer verbreitet niedergehen. Beim Flug ostwärts in die Region des Col de la Croix Haute berühre ich mit dem Oberarm einmal kurz den Mikrophon-Schwanenhals und erhalte gleich durch’s Fliegerkombi einen schwachen Stromschlag, wonach ich mich schleunigst aus den Niederschlägen an die Sonne zurückschleiche, um weiteren Viehhüter-Stromstössen zu entgehen. Vermutlich würden die Flugzeug-Instrumente empfindlicher als mein Oberarm auf solche Misshandlungen reagieren.

Den zweiten Flug erlebe ich aus dem Rücksitz des Janus C HB-1899. Vorn kämpft Martin Haller während des Schlepps anfangs mit den Tücken der Wölbklappen, sobald wir uns auf negative Klappenstellungen geeinigt haben, ist der ungemütliche Tanz aber rasch unter Kontrolle. Während des ganzen Fluges folgen und nutzen wir konsequent die verbleibenden Sonnenlicht-Resten, welche die wie schon am Vortag feuchtlabilen Luftmassen übrig lassen. Die Strecke führt bis auf die Höhe von Grenoble. Auf den Weiterflug nordostwärts ins Massif de la Chartreuse verzichten wir der schlechteren Wetteroptik wegen und fliegen südlich der Chaîne de Belledonne in die Region südlich der Alpe d’Huez, wo wir ebenfalls wieder im Regen landen. Der Flugweg führt uns dann weiter zwischen den in die Höhe schiessenden Gewitterwolken südwärts zum Pic de Bure und über Gap und Chateau Arnoux zurück nach Vinon. Ein langer Gleitflug in ruhiger Luft scheint durch eine ebensolche Landung zu Ende zu gehen, als wir westlich von Vinon einen erneuten, aktiven Schauer bemerken, ohne dessen Zugrichtung feststellen zu können. In kurzer Zeit gewinnen wir über der Böenwalze vor dem Gewitter im Geradeausflug Richtung Vinon 500 Meter an Höhe. Jetzt sind klare Entscheide gefragt: Sollen wir unverzüglich landen, um vor dem Regen am Boden zu sein oder wäre es besser, in der Luft das Ende der Schauer abzuwarten? Eine Rückfrage per Funk ergibt rasch einen klaren Befund. Der Cheffluglehrer von Vinon, Tom, empfiehlt uns unmissverständlich, ‚immediatement’ zu landen und stellt uns dafür auch den neu geteerten Hartbelag der Piste 28 Süd in Aussicht. Kaum ist der letzte Funkspruch im Äther verklungen, stellen wir den Janus mit voller Bremsleistung auf den Kopf und setzen nach einer Starkwindlandung punktgenau am Pistenanfang auf. Vinon zeichnet sich dieses Jahr durch eine aussergewöhnliche Gastfreundschaft aus. Das beste Beispiel dafür liefert die ‚Bergung’ des Janus nach dieser Gewitterlandung. Statt uns vom sicheren Hangar aus gemütlich beim Wegschieben des schweren Doppelsitzers zu beobachten, stürmt gleich ein gutes Dutzend französischer Helfer herbei, um uns mitsamt dem Flugzeug unverzüglich unter das sichere Hangardach zu schieben, ohne uns Zeit zum aussteigen zu lassen. Das letzte Hangartor fällt gerade metallisch ins Schloss, als wir das Flugzeug unter Dach verlassen, da fallen die ersten schweren Tropfen eines veritablen Wolkenbruchs. Wir wären ohne die spontane Hilfe unserer Freunde im braunen Vinon-Schlamm mitsamt dem Gruppen-Janus förmlich untergegangen. Den würdigen Abschluss dieser aussergewöhnlichen Landung im Hangar liefert ein kleiner Apéro im Aufenthaltsraum, bis sich der grösste Pulverdampf des nahrhaften Gewitters verzogen hat. Während wir versonnen mit einer Bierbüchse in der Hand den Regentropfen zusehen, landet als letztes Flugzeug für heute die Stemme ‚FS’ auf der Piste 10. Ein sehenswertes Schauspiel. Meterhoch spritzt der Schlamm rund um’s Flugzeug. Anderntags beobachten wir die beiden Piloten, wie sie mit dem Gartenschlauch bewaffnet, die gröbsten Spuren vom Flugzeug abzuwaschen versuchen. Wir füllten dann einfach ebenfalls anderntags der Einfachheit halber die leeren Vorräte in Kühlschrank wieder auf, um dort den gröbsten Schaden gutzumachen.

Dom von oben
Der folgende Flugtag ist der erste einer Serie aussergewöhnlicher Thermiktage, die sich durch flächendeckend gute Aufwindverhältnisse und Basishöhen auszeichnen. Das geflügelte Segelfliegerwort, wonach selber schuld sei, wer bei weniger als 3 m/Sek. kreise, verliert etwas von seiner Arroganz und wird auch für Durchschnittspiloten nachvollziehbar, wenn er die Nase seines Fliegers in den blauen Himmel zieht und beim Eindrehen eine kaum enden wollende Beschleunigung erlebt, bei der das Variometer dann bei 5 m/Sek. oder ab und zu auch mehr stehen bleibt.
Erneut ist der Start nicht einfach und wir kämpfen in brütender Hitze kollektiv mit vollen Wassertanks und schweren Flugzeugen in den ersten schwachen Aufwinden über Greoux, Valensole und Puimoisson gegen das Absaufen. Im Cockpit steigt direkt proportional zur schlechten Laune die Temperatur. Der Schweiss läuft mir während der ersten 90 Minuten buchstäblich nur noch über das Gesicht und das Fliegerkombi wird nasser und nasser. Wie schön wäre es doch jetzt im Swimming-Pool! Die Cockpit-Temperatur bewegt sich im Bereich von 50° C. Der erste Liter Zitronenwasser wird in kurzer Zeit vertilgt, damit die Konzentration nicht der Apathie Platz macht. Die Gefahr eines Zusammenstosses in der Pulkfliegerei ist allgegenwärtig, nicht alle Kollegen pilotieren gleich rücksichtsvoll und vorsichtig. Wenigstens halten sich heute alle an die allgemeine Drehrichtung! Mit etwas Mut und Glück mogle ich mich auch heute wieder nach Norden davon und kann einen Aufwind alleine oder mit wenigen Gschpänli bis auf ca. 1'400 M.ü.M. ausfliegen, was mir die Voralpen entscheidend näher bringt. Insgesamt gelingen alle Abflüge mit etwas Zeitverzögerung ohne wirkliches Aussenlanderisiko oder Rückflugmöglichkeit auf einen der Flugplätze. Eile mit Weile ist mit Sicherheit das bessere Motto als blindwütiges Drauflos- oder Hinterherfliegen. Das Glück der Gambler wechselt öfters die Seite – wer gerade ganz oben war, findet sich im nächsten Aufwind unverhofft ganz unten und umgekehrt.

Thermik über dem Matterhorn
Im Unterschied zu früheren Jahren benutze ich auch heute den Parcours des Combattants nicht und steige in einem der starken Aufwind über den Voralpen bis spätestens zu den Trois Evéchés auf nahezu 3'000 M.ü.M., was einen direkten Flugweg ins hohe Relief ermöglicht. Die Vorteile sind augenfällig: eine entspannende Operationshöhe, eine bessere Verteilung der Flugzeuge in der Region und damit ein geringeres Risiko gefährlicher Begegnungen. Nicht zuletzt darauf führe ich zurück, dass ich während aller Flüge mehrheitlich alleine auf weiter Flur operieren kann und die andauernden ‚Near-misses’ vorheriger Jahre entfallen. Wie Airliner zischen wir mit wenigen starken Aufwinden ins nördliche Durancetal und finden über den bekannten Aufwindgebieten flächendeckend starkes Steigen. Um ca. 15.00 Uhr überquere ich das Becken von Bardonnecchia, überfliege höher als 4'000 M.ü.M. den Col d’Etaches zum Charbonnel, wo mich eine erfreuliche Wetteroptik erwartet. Von hier aus fliegen Martin Haller und ich zusammen nach Nordosten weiter, wobei die Sprunggeschwindigkeit über dem Val de Rhèmes ins Aostatal und weiter ins Valpelline auf unglaubliche 200 km/h ansteigt, was mir bisher noch gar nie passiert ist... Kaum erstaunlich, können wir um 17.15 Uhr zu dritt über dem Matterhorn einige Kreise ziehen. Obendrauf ist tatsächlich ein kleiner Cumulus, der das ermöglicht. Wir wenden um 17.45 Uhr über der Mischabelgruppe und nehmen den langen Rückweg nach Südfrankreich unter die Flügel.

Charbonnel bis zum Bauch im Wasser
Ist die Wetteroptik vor wenigen Minuten mit Blickrichtung Osten noch wunderbar kompakt gewesen, so zerfällt plötzlich alles mit dem Wechsel der Blickrichtung nach Westen. Obwohl mir bewusst ist, das dies mit dem direkten Sonnenlicht und weniger mit der objektiven Aufwindstärke zu tun hat, bleiben plötzlich die vorher noch so starken Aufwinde scheinbar weg, bis wir schliesslich über dem Val d’Anniviers und später im Valpelline wieder mit mehr als 3 m/Sek. verwöhnt werden. ‚Ende Jahr höre ich mit Segelfliegen auf’ – schiesst mir durch den Kopf – ‚die Bedingungen können nach diesen Flügen ja nur noch schlechter werden und wir werden alle frustriert im Cockpit sitzen’. Es hilft nichts: man muss solche Momente einfach geniessen, wenn man sie erleben kann.
Martin Haller kämpft mit dem unhandlicheren Janus tapfer mit und wir überqueren das Val d’Aoste erneut gemeinsam, um über der Grivola wieder in die Thermik einzufädeln. Inzwischen stellen wir fest, dass das Vallée Modane seit längerer Zeit im Schatten liegt. Verflixt, damit ist die Schlüsselstelle ausser Betrieb! Die verlässlichen Aufwindquellen, die mir sonst den Heimweg in den Raum Briançon ermöglichen, dürften von Minute zu Minute schwächer werden oder bereits verschwunden sein. Ich beginne, auf’s Tempo zu drücken, mogle mich mit meinem wendigen Einsitzer in den letzten Sonnenstrahlen von Gipfel zu Gipfel zum Nivolet-Pass, während Martin bei jedem Einkreisen mit dem schweren, unhandlichen Doppelsitzer etwas tiefer anfangen muss und den Höhenverlust bis nach Bonneval, bzw. zum Charbonnel, auf ca. 300 Meter kumuliert. Der sonst sehr zuverlässige und gerade deswegen von mir so geschätzte Charbonnel ‚steht diesmal bis zum Bauch im Wasser’ und spendet nur noch in der Gipfelregion von der Schulter weg Aufwind – und den nicht zu stark. Max Weber, der über dem Gipfel während beinahe einer Stunde auf uns gewartet hat, dürfte inzwischen fast zum Cockpit hinausgefallen sein, harrt aber trotzdem tapfer aus. Für Martin Haller stehen allerdings inzwischen die Aktien miserabel. Unter der Charbonnel-Schulter, im Schatten, findet er nur noch Abwind und muss sich in Richtung Sollières flüchten, wo er trotz heftiger Gegenwehr über den restlichen Sonnenflecken im Süden des Tales schliesslich aussenlanden muss.
Obwohl der Entscheid unangenehm ist, fliegen wir alleine über den Col d’Etaches weiter und nutzen im Le Rosier den letzten vernünftigen Aufwind, um mindestens den Morgon und damit den Parcours des Combattants erreichen zu können. Von Martin hören wir inzwischen gar nichts mehr am Funkgerät. Erst nach der Landung in Vinon klingelt erlösend das Handy und er meldet fröhlich ein blessurenfreies ‚tombé du ciel’ mit leichtem Rückenwind auf der abfallenden Piste, die glücklicherweise über einen Kilometer lange ist.
Der Endanflug von Max und mir beinhaltet am Ende noch ca. 45 Minuten Reserve, bis die Thermik endgültig aus ist. Wir klettern über dem westlichen Durancetal nochmals bis an die Basis, um danach direkt Vinon anfliegen zu können. Die Basishöhe ermöglicht dies im Gegensatz zu früheren Flügen problemlos. Am Ende verlängern wir im Raum Château Arnoux den Flug mit einem letzten starken Aufwind nochmals. Das Gewissen plagt mich: wir hätten durchaus länger auf Martin warten können, es hätte für uns allemal auch eine gute Stunde später noch nach Hause gereicht. Die Frage, ob wir ihm etwas genutzt hätten, bleibt allerdings damit auch nicht beantwortet.

Mont Blanc
Der kommende Flugtag bringt uns einen ‚normalen’ Flugtag, an dem Hans Reis und ich ‚nur’ bis zum Col d’Iseran und nach Tignes gelangen, weil der Weiterflug nach Nordosten mit allzutiefer Basis und unkonsistenten Untergrenzen über der Region des Col de Nivolet zugesperrt bleibt. Der Start um ca. 13.00 Uhr in Vinon und der erneut nicht ganz einfache Abflug in die Voralpen sind Gründe, weshalb wir es angesichts einer im Nordosten das Gebiet streifenden kleinen Front mit labilisierenden und feuchteren Luftmassen als in den Vortagen wegen vorziehen, frühzeitig den Flug abzubrechen und nach Vinon zurückzukehren. Den Abend beschliessen wir wie in den letzten Tagen öfters im neu eröffneten Fisch-Restaurant von Vinon. Die Stimmung unter den Freunden ist gut, es wird ein fröhlicher Abend, demenstprechend spät kommen wir ins Bett und damit nur zu wenig Schlaf.

Verschwörung
Während des Startprozederes am kommenden Tag beginnt bei meinen Hinterleuten in der Startreihe in der glühenden Hitze über dem Asphalt von Vinon offenbar spontan eine kleine Verschwörung. Das Wort von ‚nach Schänis fliegen’ macht plötzlich leise die Runde und steckt wie ein Virus alle auf der Stelle an. Die Wetteroptik mit aufbauendem Hochdruck, trockeneren Luftmassen und doch leicht labilerer Schichtung sieht vielversprechend aus und in allen von uns steckt der heimliche Wunsch, einmal die Strecke zum Heimatflugplatz in der Schweiz nicht auf der Strasse zurücklegen zu können. Auch in meinem Kopf ist der Virus eingepflanzt, ich beschliesse aber, mich so spät wie möglich zu entscheiden, ob ich geradeaus nach Nordosten Schänis anfliegen werde oder den an sich schwierigeren Rückweg in die Provence unter die Flügel nehme. Wir fädeln wie gewohnt in den letzten Tagen in die Voralpen ein und freuen uns um ca. 15.00 Uhr in der Region Briançon über die ersten wirklich starken Aufwinde. Das Vorankommen ins Modane-Tal ist eine Freude, selten habe ich eine so hohe Wolkenbasis angetroffen. Es läuft wie geschmiert und um ca. 16.00 Uhr befinden sich ‚GC’ mit Hans Reis und Martin Haller an Bord des Gruppen-Janus HB-1899 und ich in meiner vertrauten ASW-20-B über dem Col de Nivolet. Nach Norden sieht die Wetteroptik bombastisch aus. In Richtung Mont Blanc reihen sich die Cumulus in grosser Höhe aneinander. Nach Nordosten, über das Vallée d’Aoste und das Valpelline, ist die Luft trockener. Einzelne, sehr hohe, flache Cumulus zieren den Himmel. Wo sich der Horizont in der blauen Unschärfe verliert, kann ich gar keine Bewölkung mehr erkennen. Meine beiden Freunde sind offenbar von ihrer Verschwörung getrieben, geben Vollgas und rauschen wild entschlossen ab Richtung Valpelline.

Mir fällt der Entscheid wesentlich schwerer. Das ‚blaue Loch’, das sich bis an die Furka abzeichnet, macht mir gar keine Freude. Nach einigen Minuten des Überlegens siegt der Zauderer in mir und ich ergreife trotz nagender Zweifel, eine einmalige Chance zu verspielen, doch lieber die Chance, ein anderes, altes Flugziel von mir unter die Flügel zu bekommen – den Mont Blanc. Während Hans und Martin zuversichtliche Funkkommentare aus der Region Zermatt in den Aether absetzen, kann ich tatsächlich über die Grand Jorasses und das Mer de Glace die Aiguille du Midi überfliegen und setze beeindruckt von der schieren Grösse dieses riesigen Schnee- und Felshaufens zur Umrundung des höchsten Gipfels Europas an.

Wilder Tanz am Peuterrey-Grat
Auf der Westseite ist offenbar wenige Minuten vorher eine Steinlawine ins Tal gedonnert. Eine grosse, graue Staubwolke füllt das Tal, das den Mont Blanc nach Westen verlässt. Diese Felsabbrücke sind ein Phänomen, das wir während dieser Fliegerferien bereits am Matterhorn zweimal bemerkt haben. In Zermatt war gleich das ganze Tal der Schönbiel-Hütte mit einer grauen Staubwolke gefüllt. Den Gipfel kann ich rund 300 Meter unter der Krete umfliegen – höher geht’s heute auch hier nicht mehr. Auf der Südwestseite gerate ich in allerhand Turbulenzen, versuche noch, über dem Peuterrey-Grat einen engen, wilden Aufwind auszuwerten, gebe aber bald einmal auf, obwohl die Kreiserei über den steilen Schluchten an der Aiguille Noire de Peuterrey spannend ist. Über den Petit St.-Bernard erreiche ich in kurzer Zeit wieder die vertraute Gegend von Val d’Isère. Die Aufwinde sind etwas weniger stark, weniger zuverlässig, weniger eindeutig, die Wolken fransen langsam aus – immerhin ist dies für diese Tages- und Jahreszeit noch immer ein bemerkenswerter Flug.

Alles schon Routine?
Der Rest des Fluges ist inzwischen schon bald Routine – so arrogant dies hier auch tönt. Ich nehme noch zwei Aufwinde mit, einen in der Region von Briançon an der Crête de Peyrolles und einen nördlich Gap am Guillaume, um dann anders als in früheren Jahren, den Weg nach Vinon der hohen Arbeitshöhe wegen direkt unter die Flügel zu nehmen. Es ist kaum zu glauben, aber selbst an meinem bestens bekannten Segler entdecke ich noch eine neue Dimension. Die Maschine gleitet und gleitet selbst bei einem Speed von über 150 km/h noch eine Ecke weiter, als ich es mir vorgestellt habe.

Den zwar reizvollen aber in diesen Höhen mehr oder weniger sinnlosen Heimweg über den Parcours des Combattants wähle ich während dieses Fliegerurlaubs eigentlich nie und fliege immer direkt auf Kompass-Kurs in die graublaue Dunstsuppe in Richtung Durance-Tal vor. Auch ins hintere Ubaye-Tal komme ich dieses Jahr höchstens einmal bis zum Grand Bérard und zum Col de Vars. Zu schnell ist der direkte Weg, zu stark die Aufwinde direkt am Durance-Tal, zu verlockend ist die hohe Wolkenbasis über dem Prachaval und dem Col d’Izoard, als dass ich mich zum Monte Viso verfliege. Die höchsten Alpengipfel im Wallis locken zu sehr – an die wunderschöne Aiguille de Chambeyron und den Parc National de Queyras kommen wir in all den folgenden Jahren mit vermutlich viel schlechteren Bedingungen ja noch bis zur Genüge...

Hans und Martin sind kurz vor sieben Uhr abends in Schänis gelandet und melden sich per Telefon, dass alles bestens gelaufen ist. Der Weg war tatsächlich der fehlenden Thermikanzeigen wegen nicht ganz problemlos, die bekannten Aufwindgebieten über dem Matter- und Binntal machen aber ein rasches Vorfliegen über die Furka trotzdem möglich. Der Rest des Weges über das Urnerland scheint auch ohne grössere Hindernisse zu bewältigen gewesen zu sein. Jedenfalls klingen beide sehr fröhlich aus dem Handy, sind stolz auf ihre tolle Leistung und freuen sich des guten Wetterberichtes für den Folgetag wegen zuversichtlich auf den Rückflug nach Südfrankreich.

Vinon-Schänis: später, harziger Abflug
Obwohl ich am Folgetag keineswegs mit der Absicht in meine ASW-20-B sitze, es meinen Kameraden gleichzutun und ebenfalls den Versuch zu wagen, einmal nach Schänis und anderntags zurückzufliegen, muss mich der Virus doch heimlich angesteckt haben. Irgendwie rumort die Idee doch im Hinterkopf herum, auch wenn anfangs keinerlei Aussicht auf einen wirklich weiten Flug besteht – zu schwierig ist heute der Start.

Wie verschiedene Male vorher, ist der Abflug nach 13.00 Uhr auch heute eine ausgeprägte Zitterpartie. Öfters ist in diesem Fliegerurlaub eine Aussenlandung nur durch sehr vorsichtiges, sprich langsames Vorwärtsfliegen über das Plateau Valensole zu vermeiden. Auch heute ‚eile ich mit Weile’ stetig gen Norden. Irgendwann gelingt dann aber in der Region nördlich des Flugplatzes von Puimoisson doch das Einfädeln in einen stärkeren Aufwind. Bis dahin habe ich mich mehr oder weniger alleine über die durchgeglühten Felder der grössten Lavendelplantage vorwärtsgemogelt. Daniel Bosshart mit seinem grossen Vogel ist ebenfalls irgendwo über dem Plateau, ich sehe ihn aber erst in Moustiers – sehr tief um Überleben kämpfen. Der in den letzten Tagen zuverlässige Aufwindspender westlich des Städtchens Puimoisson macht heute Pause, dafür geht in den kleinen, runden Hügeln vor der Serre de Montdenier ‚die Post ab’. Zusammen mit Daniel Bossart, der auf 1'200 M.ü.M. mit seiner ASW-22 scheinbar festsitzt und der unten in ‚meinen’ Aufwind einsteigt, klettern wir auf über 2'000 M.ü.M. hinaus. Nun sieht die Sache doch wieder ganz anders aus! Dieser Aufwind war mit seinen knapp 3 m/Sek. vielversprechend. Meine graues Fliegerkombi – übrigens bereits die zweite Garnitur, ist komplett durchgeschwitzt. Wenn ich heute tatsächlich noch hoch hinauf komme, werde ich kalt bekommen!

Ich lasse erneut den klassischen Weg über den Parcours des combattants links liegen. Der Montagne de coupe und die Region östlich davon scheinen bereits in einem explodierenden CB zu stecken, jedenfalls gehen die ersten schweren Schauer deutlich sichtbar als weisse Vorhänge über die ausgetrocknete Landschaft nieder. Die Tendenz zu Ausbreitungen nimmt meines Erachtens deutlich zu. ‚So rasch es geht, nach Norden’ ist wohl das sicherste Rezept in dieser Situation. Ich entwische der ersten richtigen kalten Dusche gerade noch, indem ich in den Vorgipfeln der Trois Evéchées inmitten der ersten Schauer noch an der Sonne mit guten Steigwerten Höhe gewinne, um endgültig im Ubaye-Tal ans gleissende Licht der Provence und an die starken Aufwinde heranzukommen, die mit einer Wolkenbasis von deutlich über 3'000 M.ü.M. klar markiert sind. Hier höre ich auch das erste Mal die Piloten aus Schänis am Funk. Martin Bühlmann ist mit ‚8T’ in der Gegend von Briançon und wendet über der Barre des Ecrins. Dass er mein Begleiter auf dem Flug nach Schänis werden wird, weiss ich noch nicht, als ich die Flugzeugnase auf den Mont Guillaume richte. Die Westseite des Durance-Tals bietet eine hervorragende Wetteroptik. Weil ich in den vergangenen Tagen öfters über den Col d’Izoard geflogen bin, wähle ich diesmal die Westseite.

Unglaublicher Aufwind an der Tête de Lucy
Die hat diesmal eine angenehme Überraschung für mich bereit. Die Gipfelkreten nördlich des Guillaume sind seit Stunden voll in der Sonne gewesen. Ich fliege sie mit einem langen Gleitflug direkt an, so dass ich ohne Hangfliegerei einkreisen kann. Ich hole tief Luft, als das Vario zu singen beginnt. Die Nase der ASW zeigt in den blauen Himmel, der Flieger steigt und steigt und steigt. Nach endlos scheinenden Sekunden lege ich den Flügel in eine enge Kurve. Das digitale Variometer steht mit 5.7 m/Sek. am Anschlag, wenige Minuten später finde ich mich auf über 4'000 M.ü.M. wieder. Die Optik hat sich völlig verändert, die Gipfel sind unter mir förmlich weggeschrumpft. Die Distanz zum nächsten mutmasslichen Aufwind an der Crête des Agneaux ist leicht überwindbar. Jetzt gilt es, Tempo zu machen, wenn ich trotz des späten Starts und des schwierigen Abfluges noch ins Wallis fliegen will, um mindestens das Matterhorn nochmals zu sehen. Die letzten Minuten haben mich in Trance versetzt. Wie im Traum gleite ich nach Nordosten, den schönsten Wolken nach.

Berauschende Wetteroptik nach Nordosten
Der Blick in die Flugrichtung nach Nordosten jagt mir einen Schauer über den Rücken. So habe ich das Modane-Tal noch überhaupt nie gesehen. Der Charbonnel ist selbst von hier aus klar erkennbar, auch noch überragt von einer Reihe von Cumulus-Wolken mit einer Basishöhe von deutlich über 4'000 M.ü.M., mit schwarzen, dunklen Böden. Einfach unglaublich. Üblicherweise sieht man hier niemals so klare Strukturen, die Wolken hängen oft tief an den Kreten über dem Col du Mont Cenis, wer weiter nach Bonneval fliegt, muss an die Kraft des Charbonnels glauben. So wie heute sollte Segelfliegen eigentlich immer sein, bloss wäre das dann wohl auch irgendwann langweilig...

Ich wähle den direkten Anflug an die Ostseite nach Bardonnecchia, um über der Barrage Rochemolles nochmals Höhe zu tanken und dann in Bonneval oder Val d’Isère nochmals meine Flughöhe zu ‚sanieren’, um weiter nach Nordosten weiterzukommen. Der Flug an den Grand Paradis wird zum reinen Vergnügen. Wie von einem Automaten gesteuert, drehe ich in die Aufwinde ein, zuverlässig kommen immer dieselben unverändert guten Steigwerte auf das Display, die Wolken-Basis ist problemlos hoch, die Perspektive über dem Val Savaranche und weiter im Osten, im Valpelline, ist deutlich besser als am Vortag, wo hier alles in wunderschönem Blau versunken ist. Ich kann mein Glück kaum fassen, einen derart tollen Flug zu erleben, alle Arten von Gefühlen rasen durch meine Körper. Was für ein Privileg, hier wie ein Vogel quer durch Europa sausen zur dürfen!

Der vorher erwähnte Virus bricht schlagartig aus, als ich über dem Val de Rhêmes einen ausgezeichneten Aufwind bis an die Wolkenbasis erwische. Der Blick auf die Uhr und ein Funkspruch mit Martin Bühlmann, der seine SZD-55 aus Polen im Valpelline in besten Bedingungen nach Osten vorantreibt, machen alles in Sekunden klar: heute fliege ich nach Schänis und realisiere damit einen Traum, an den ich selber kaum je wirklich geglaubt habe! Heute packe ich’s! Entschlossen fliege ich den Talsprung nördlich Aostas an, die Nadel des Fahrtmessers steht nie unter 160 km/h. Beim ersten Flug in die Mischabel-Gruppe waren die Sprunggeschwindigkeiten während einer längeren Flugphase in dieser Region sogar noch höher, bei unglaublichen 200 km/h.
Noch nie in den ganzen zwanzig Jahren, in denen ich segelfliege, habe ich derart hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten realisieren können wie in diesem Sommer gleich mehrmals hintereinander.
Ich habe etwas Zeitreserve und gehe die Sache deshalb heute nicht ganz so wild an. Richtig spannend wird der Flug nach problemlosem Queren des Valpelline und des Matterhorns im Mattertal, wo ich auf 3'200 M.ü.M. in der Hoffung auf einen guten Aufwind einfahre.

Kniffliger Endanflug
Die letzten Lift’s waren nicht mehr von der fast brachialen Gewalt jener aus dem Valpelline oder dem Durance-Tal. Die Tageszeit und der Sonnenstand im August müsste sich ja irgendwann im Laufe des späteren Nachmittags auch thermisch bemerkbar machen. Vorsichtig drehe ich über der Schönbielhütte in einen nur zaghaft funktionierenden Aufwind. Im Hinterkopf rumort zwar der ‚Rothorn’-Aufwind herum, ich möchte aber hier an dieser Schlüsselstelle nichts anbrennen lassen. Oft bin ich zu forsch vorgeflogen, um dann mit Hangfliegen tief unter der Krete den ganzen Zeitgewinn wieder zu verspielen. Das soll mir hier nicht passieren. Ich will hier im Wallis die Maximalhöhe gewinnen, um dann im Binntal oder an der Furka oder im Bedretto-Tal die Endanflughöhe für Schänis aufbauen zu können. Und mit zielloser Aufwindsuche geht das bestimmt nicht. Meine Geduld wird dann doch noch belohnt. Ab ca. 3'600 Meter gewinnt der Aufwind an Stärke und spült mich mit mehr als 3 M./Sek. auf 4'300 M.ü.M. hinauf. Das reicht dann auf jeden Fall, um an der Mischabelgruppe, direkt über den höchsten Gipfeln des Dom wie geplant auf 4'600 M. hinauf zu klettern. Mein Endanflugrechner meldet hier bereits genügend Höhe, um Schänis zu erreichen, was allerdings angesichts der hohen Pässe dazwischen kaum realistisch sein wird. Die Furka zu überspringen, ist auf jeden Fall ‚im Fass’, aber ob’s dann mit einem möglicherweise aufwindlosen Flug durch die Urner Alpen noch über den Klausen reicht, möchte ich lieber nicht eins zu eins austesten, auch wenn die Elektronik dies sicher sehr präzise berechnen kann.

Die ASW hat doch noch eine Dimension, die ich noch nicht kenne...
Die Wolken beginnen langsam zu zerfallen und sich teilweise aufzulösen, was um 17.30 Uhr anfangs August natürlich ihr gutes Recht ist. Martin Bühlmann erlebt offensichtlich im Bleniotal rund um Olivone die Tief- und Höhepunkte des Segelfliegens innert derselben halben Stunde, indem er sich aus aussichtslos scheinender Situation doch wieder befreit und den Flug noch nach Splügen verlängern kann. All diese Eindrücke lassen mich insgesamt vorsichtig weiterfliegen. Im Binntal nehme ich noch ein paar Meter mit, begleitet von zwei Flugzeugen aus Vinon, die auf dem Rückweg sind – etwas spät für meine Begriffe – bis mir bewusst wird, dass wir vor wenigen Tagen um dieselbe Zeit in der gleichen Gegend ebenfalls noch unterwegs waren und den Heimweg ohne Schwierigkeiten zustande brachten.

Ein längerer Gleitflug an die Furka endet mit einem kuriosen Treffen mit einem jungen Adler. Der junge Kerl freut sich offenbar ebenso an der Fliegerei wie wir und turnt wild durch die Luft. Im Aufwind reisst er seine Flügel auf, wenn er beschleunigend in den Sturzflug übergeht, legt er seine Flügel knapp an seinen Körper. Mit seinem wilden Spiel zeigt er mir den Aufwind, der mich dann sorglos nach Schänis bringt. Zuhinterst am Nufenen-Pass kann ich mit mehr als 2.5 m/Sek. nochmals ein paar Hundert Meter dazugewinnen, am Ende auch noch begleitet von einer DG-400, die mit mir zusammen in sehr engen Kreisen in die Höhe steigt, überwacht von unserem gefiederten Kollegen. Beide verschwinden beim Abflug in die Urner Alpen plötzlich aus meinem Gesichtsfeld. Der Adler wird sich anderswo vergnügt haben, die DG dürfte aus Münster oder Ambri gewesen sein.
Über Andermatt rufe ich zuhause an. Brigitte staunt nicht schlecht über die Neuigkeit, dass ich mitten in meinem Südfrankreich-Urlaub zuhause übernachte, sie wird mich aber in Schänis abholen.

Die Provence ist plötzlich auf die Alpennordseite gewandert
Der Anflug über die Urner Alpen ins Klausenpass-Gebiet erinnert mit stark an die Endanflüge, die ich sonst in die Provence hinein mache. Die Gipfel sind bis in hohe Regionen hinauf schneefrei, was das Gestein in seiner ganzen Farbenpracht zeigt. Die flache Sonne verzaubert die Berge mit einem unwirklichen Licht, die Aufwinde – allerdings meist nahe an den Felsen – sind unvermindert stark, der Anflug ins Voralpengebiet führt ebenfalls über trockene Wiesen und Felder. Eine auch für mich etwas überraschende Erkenntnis – aber der optische Eindruck ist tatsächlich verwandt mit jenem, der entsteht, wenn man aus dem Ubaye-Tal über den Parcours des combattants hinaus in die Ebene des Plateau Valensole fliegt. Bloss die Sonne steht auf der falschen Seite – aber was etwas Phantasie so alles ausmachen kann...

Etwas ungewohnt für einen Segelflieger-Urlaub in Südfrankreich beschliesse ich diesen Flugtag zuhause im mir heute extrem kalt scheinenden Swimmingpool, um anderntags wieder um 06.00 bereits im Molliser Büro meine Internet-Seite zu aktualisieren. Nach knapp zwei Stunden haben sich meine MitarbeiterInnen an den Chef mit Migros-Tasche als Reisegepäck und die kurzen Hosen gewöhnt und Petra Müller chauffiert mich wieder auf den Flugplatz Schänis, wo ich den Rückflug in Angriff nehme.

Modernes Bergsteigen am Weissmies
Nach dem Schlepp auf die Südwestseite des Murgtals klettere ich über den glatten Felsen mit ordentlichen Steigwerten die ersten paar Hundert Meter in die Höhe. Am Foopass wiederholt sich das Spiel, dann aber bereits mit besseren Steigwerten und einer Operationshöhe von über 3'000 M.ü.M., was natürlich ein leichtes Fortkommen direkt über den Kistenpass erlaubt. Am Bifertenstock klettere ich den Bänderweg hoch, im Val Russein nehme ich die Maximalhöhe mit, um gleich an den Lukmanier zu wechseln. Am Ritomsee steht der erste aussergewöhnlich starke Aufwind, der mich an den Nufenen transportiert. Dort gewinne ich ein paar Meter an der Passstrasse, um im Binntal dann wieder richtig in die Thermik einfädeln zu können. Von hier weg fliege ich den Weissmies an, quere eine LS-4, die auf Westkurs meinen Kurs schneidet und tauche tief an den Grat, der nach Saas Fee hinunterführt. In wenigen Minuten klettere ich dem Felsgrat auf der Westseite entlang weit über den Gipfel hinaus. Die Bergsteiger auf dem Weissmies werden sich am Kopfe kratzen, wenn sie mich dabei beobachtet haben, wie leicht man heutzutage bergsteigen kann.

Der Weiterflug läuft dann wieder ab wie in einem Traum, von dem man sich wünscht, er ende nie. Am Matterhorn schwebe ich lockeren Fusses vorbei, um ganz am Ende des Valpellines beim kleinen Seelein in die Felsen hineinzutauchen. Nach einigen Minuten Suchens entdecke ich doch noch den Grund für den hohen Cumulus über mir. Ein Aufwind von sagenhaften 6.7 m/Sek. lässt mich im Cockpit jauchzen. Einen stärkeren habe ich noch überhaupt nie gefunden, sieht man von den dynamischen Rotorwolken-Steigwerten einmal ab.

Nach zwei Stunden am Mont Blanc
Die Wetteroptik nach Westen sieht hervorragend aus. Ein kleiner Umweg über den Mont Blanc liegt locker drin. Eigentlich hätte ich vor meinem Weg nach Südwesten durchaus vorher noch nach Österreich oder zumindest ins Engadin fliegen sollen, um die Möglichkeiten dieses aussergewöhnlichen Tages richtig zu nutzen – aber ich wollte eine Transportübung vermeiden, die entsteht, wenn man irgendwo aussenlandet, das Material in Südfrankreich, das Flugzeug im Engadin und den Piloten in der SBB irgendwo dazwischen platziert. So umrunde ich kurz vor halb zwei bereits den Gipfel des höchsten Berges Europas. Auf der Westseite beobachte ich erneut eine Steinlawine, welche mit ihrem Staub das ganze Tal ausfüllt, bevor ich die Flugzeugnase südwärts Richtung Val d’Isère richte.

Im Süden kocht die Luft wieder. Sie ist deutlich feuchter als nördlich des Modane-Tales. So muss es die letzten Tage wohl immer gewesen sein, was erklärt, warum die Piloten von Schänis aus nach ihrem frühen Start um 10.00 Uhr bereits in St. Crépin ihre Kreise zogen, während wir mit der erst aufbauenden Thermik um 13.00 Uhr noch in den südlichen Voralpen kämpften. Ich bin glücklich, dass ich trotz der improvisierten Hilfsmittel in Schänis mein Flugzeug noch mit 40 Litern Wasser gefüllt habe. Es wäre zu schade gewesen, die ASW heute ohne zu fliegen.

Back to paradise.
Der Rückweg nach Vinon gestaltet sich natürlich mehr als einfach. Ich war auch noch nie so früh am Nachmittag in Bonneval. Normalerweise erreichen wir das Hochtal erst am späteren Nachmittag. Die Aufwinde sind auch heute ausgesprochen stark, zuverlässig und hochreichend, so dass ich hoch über dem Guillaume mitten im Nachmittag Kurs auf Vinon nehmen kann. Nach einem endlosen Gleitflug aus den Hochalpen kann ich eingangs Val d’Asse einer grossen, schönen Cumulus-Wolke doch nicht widerstehen und drehe auf 1'000 M.ü.M. in einen Fünfmeter-Aufwind ein, den ich aber dann doch auf halber Höhe verlasse, um den Flug nicht weiter zu strecken. Was ich in den letzten beiden Flugtagen erlebt habe, ist nicht mehr zu toppen. Auch wenn ich die sonnendurchglühte Provence, den Luberon, die Lure, den Lac de Ste. Croix noch so unvergleichlich finde. Nach einer langen Schlaufe über die Ebene von Brignoles tauche ich ein in die Hitze der Provence. Einige weite Kreise über der Durance warte ich, bis der letzte Tropfen Wasser aus den Flügeln gerauscht ist, drehe ein in den Downwind, lande kurz auf der stoppeligen, dürren Graspiste und klettere knapp vor 17.00 Uhr überglücklich, aber etwas hakelig aus meinem Flugzeug.

Es riecht nach Lavendel.
Wer will denn noch in den Himmel – wir sind ja schon im Paradies.

Die Protagonisten
Im neu getauften Château des routiers des airs sind dieses Jahr Max Weber und ich einquartiert und teilen uns den schlichten Komfort des in die Jahre gekommenen Wohnwagens. Im deutlich bescheideneren Blockhaus logiert Martin Haller, wenn er überhaupt in Vinon ist und sich nicht gerade nach Sollières oder Schänis verfliegt. Möglicherweise hat seine nicht zu bändigende Lust an der Flucht auf andere Landestellen doch etwas mit der Kargheit seiner Unterkunft zu tun? Ein paar ‚Relais’ weiter hausen wie seit Urzeiten die Familie Wickli und Hans Reis, während die sportlichen Brüder Albert und Walter Götz in einem der ‚Reihenhäuser’ von Thomas Badum nächtigen. Wir harmonieren ausgezeichnet, während der ganzen Ferienzeit kommen wir ohne laute Worte aus und geniessen alle die sorglose Zeit unter der dieses Jahr besonders heissen provençalischen Sonne.

Dienstag, 23. November 2010

‚Je décolle avec un planeur sur la vingt-huite...’

August 2006.

Südfrankreich zeichnet sich nicht nur durch exzellente Küche, das Filmfestival einer Küstenstadt oder als matchentscheidendes Tour-de-France-Etappenziel auf einem gleichermassen windigen wie kahlen Berggipfel aus. Es ist auch die Gegend, wo sich Picasso von seinen Musen küssen liess und des Winters die Trüffelschweine durch die sanften, endlosen Hügel des Lubéron ziehen.




Der Blick aus 4'000 M.ü.M. aus dem Cockpit des Duo-Discus bei der Barrage Rochemolles ins Vallée Modane und zum Mont Blanc.




Von Februar bis Oktober täglich fliegen...
Südfrankreich geniesst auch bei den vom Wetter wenig verwöhnten Segelfliegern nördlich des Alpenbogens einen besonderen Ruf. Das Land südlich des Col de la Croix Haute unterscheidet sich wesentlich von unserer Gegend: man kann mit etwas Geschick von Februar bis Oktober immer segelfliegen. Drei weitere Merkmale machen diese Region zu einer segelfliegerisch besonders gesegneten Ecke der Nordhemisphäre. Das Mikroklima im allgemeinen, der Mistral und die segelfliegerische Erschliessung der Region im besondern. Im erwähnten Zeitraum reicht die Sonneneinstrahlung aus, um hervorragende und über weite Teile des Gebietes homogen verteilte Aufwinde zu produzieren. Für besondere Bedingungen ist der kalte, starke und durch Mark und Bein dringende Nordwind namens Mistral zuständig. Wellenflüge in grossen Höhen und über weite Distanzen sind ihm und jenen nervenstarken PilotInnen zu verdanken, welche sich in den bissigen Windstrom stürzen.

Besterschlossenes Segelfluggebiet der Welt...
Einmal in der Luft, profitiert man von einer einmaligen Segelflug-Infrastruktur. Die Landemöglichkeiten sind in Südfrankreich auf über ein Dutzend Segelflug-Zentren verteilt. Meistens sind Schleppflug-Kapazitäten vorhanden. Es reicht, seine Mitglieder-Nummer im Aero-Club de France zu wissen, die Verrechnung der benötigten Schleppminuten erfolgt selbst nach einer Aussenlandung zentral über die Abrechnung des Startplatzes. Die verschiedenen Zentren sind administrativ verbunden.

Caravans habitables...
Anfangs August 2006 wagt sich eine ganze Expedition aus Schänis nach Südfrankreich. Ausgestattet mit den aktuellen Luftraum-Anpassungen, Frequenzen, Lande- und Aussenlandeplatz-Informationen, richten wir uns auf dem trockenen Flugplatz Vinon, seinen ‚caravans habitables’ oder im benachbarten, noch ‚habitableren’ Hotel Olivier häuslich ein. Einige von uns sind mit den Spezialitäten Vinons von früheren Aufenthalten her vertraut, andere sind neu hier. Jene werden auf dem von der SG Lägern netterweise zur Verfügung gestellten Duo Discus von mir während der ganzen Woche durch die Gegend gescheucht, während die andern selbständig mit eigenen Flugzeugen oder mit einem ebenfalls aus Schänis mitgebrachten Gruppen-Ventus oder Discus in eigener Regie die Gegend erkunden.

Fester Tagesablauf

Üblicherweise beginnt der Tag in Vinon mit einer Visite der schönen Bäckerin in der Häuserzeile beim malerischen Platanenplatz mitten im Dorf. Jeweils einer von uns opfert sich, um dort die frischen ‚Baguettes traditionelles’ einzukaufen, welche für das gemeinsame Frühstück vor dem Château roulant von Fridli und Ernst nötig sind. Inzwischen ist dort bereits der Kaffee gebrüht, entsprechender Duft zieht um das Wohnwagen-Museum, es werden grössere Mengen Eier mit Speck zubereitet sowie heimische Käsesorten und verschiedene Confitures aufgetischt. Logisch, dass bei diesem morgendlichen Ritual die fliegerischen Möglichkeiten des Tages erstmals seziert werden.

Multikultitreffen in der Blechbude: ‚Briefing au hangar début’...
Wir teilen uns danach die Arbeit, einige waschen ab, die andern montieren gemeinsam im Nu alles, was fliegt. Teamwork ist wichtig. Danach bildet das Briefing den nächsten Fixpunkt im Tagesablauf. Alles, was in der Gegend (noch) aufrecht gehen und fliegen kann, trifft sich hier. Régis oder Mickey informieren über das theoretisch stattfindende Wetter, darüber, was gestern gut oder schlecht gemacht wurde und weisen auf die Besonderheiten des heutigen Tages hin. Besonders letzteres kann sich bei speziellen Bedingungen bei Gewittern oder Mistral nützlich erweisen. Alles ist hier etwas extremer als zuhause. Die Temperaturen, die Windstärken oder die Grösse des Flugplatzes. Das Briefing ist entsprechend gut besucht. Hans Reis übersetzt am Ende alles in eine uns verständliche Sprache. Die Erfahreneren geben Tipps, wohin man heute fliegen soll. Sitzplätze verteilen ist kein Problem. Jeder von uns ist im Laufe des Aufenthaltes über 30 Stunden in der Luft. Das Wetter ist nett zu uns. Während der Rest Europas im Regen versinkt, können wir praktisch täglich fliegen – sofern man das will.

Thermikbäume und Plastikschlangen.
Die Zeit vor dem Start wird in Vinon verschiedenartig genutzt. Wir beobachten ist eine gewisse Hektik, welche mit dem fliegerischen Ausnahmezustand hier einhergeht. Lange (Boden-) Distanzen, Hitze, Trockenheit und Wind sind nicht jedermanns Sache, die Hirntätigkeit wird bei über 30° sowieso spürbar beeinträchtigt. Organisation ist die halbe Miete. Wir überlegen uns auf dem weitläufigen Fluggelände jeden Schritt und geniessen dank vermiedener ‚Leerfahrten’ entspannt unter dem ‚arbre thérmique’ die letzten Minuten vor dem Start, während alle um uns herumschwirren.

Der ‚arbre thermique’ ist ein praktisches Gewächs. Entdeckt wurde er von Schänner Segelfliegern. Er ist etwa vier Meter hoch, eigentlich die einzige grüne Pflanze weitherum. Sie funktioniert ganz einfach. Man sitzt entspannt darunter und unterhält sich mit seinen Copains über Aktienkurse, Segelschiffe, Hauskäufe oder andere dramatische Lebensabschnitte. Dabei wartet man, bis der Baum seine Blätter bewegt. Macht er das wegen erster Ablösungen länger als eine Minute, wird es spannend. Ist dann der Abstand zwischen zwei ‚Raschlern’ kürzer als zwei Minuten, sollte man starten. Dann sind die Aufwinde in Vinon, einem ansonsten‚thermisch toten Gebiet’, wie es einzelne Schweizer Meister im Segelflug in einer depressiven Phase schon bezeichneten, über zwei Meter pro Sekunde stark. Das reicht natürlich den meisten, um oben zu bleiben. Ausser man mag es sportlich und klinkt 50 m über der Hangkante, um ein paar Minuten später nach dem ersten verpassten Aufwind die grosszügigen Aussenlandefelder zwischen Vinon und Greoux auszuprobieren. Dass man dort sogar an einem ausgezeichneten Segelflugtag unter 3/8 Cumulus mit Basis von 2'500 Meter landen kann, wird der Martin Haller unter Zeugen bestätigen. Offizielle Strafe für derartiges Verhalten ist das öffentliche Leertrinken einer auf 40° angewärmten Dose Guinness-Beer. Brr.

Minirock und Minibandes...
Die lange Plastikschlange, welche sich am Start vor den beiden ‚minibandes’ (Startstreifen) bildet, ist kein Grund zur Sorge. Fünf Schleppflugzeuge plazieren rund 100 Flugzeuge in kürzester Zeit über den nahen ‚Forêt de Vinon’ im Grund genommen eine Ansammlung mannshoher, lockerer Gebüsche (arbres thermiques?), welche sich etwa 100 Meter über den Talgrund erheben. Der Aufenthalt im segelfliegerischen Wartesaal wird durch die äussere Erscheinung der Schlepp-PilotInnen Vinons zusätzlich erleichtert. Manche von uns bleiben auffallend oft freiwillig am Boden. Dieses Infrastruktur-‚Enhancement’ sollte SchänisSoaring bei der nächsten Evaluation neuer Saison-SchleppilotInnen berücksichtigen. Was nicht heisst, dass unsere gestandenen Schleppiloten unattraktiv wären... Aber ein knapper Minirock und das unvergleichlich zart gehauchte ‚Je décolle avec un planeur sur la vingt-huite...’ verfeinern natürlich Optik und Akustik eines Segelflugtages ganz gehörig – um nicht von einer ‚Vernebelung der Sinne’ zu reden.

Segelflug-Vollpackung...
Nach erfolgreichem Start fädeln wir je nach Wetterlage über dem Plateau Valensole, dem Durancetal oder südlich des Lubéron (Mistral) ein. Anfangs ist häufig akkurates segelfliegerisches Handwerk und etwas Geduld gefragt, um eine gehörige Arbeitshöhe aufzubauen und sicher in die Voralpen einfädeln zu können. Täglich erkunden wir eine neue Ecke des Gebietes, Flüge ins Modane-Tal, zum Col de la Croix Haute, an den Monte Viso und in die Ecrins gehören zum täglichen Programm. Alle Vinon-‚Neulinge’ geniessen bei Ernst Willi eine komplette Gebietseinweisung. Mal geht es rechts rum durch die gesamte Geografie, anderntags links rum – Hauptsache, jeder ist überall einmal gewesen. An zwei Tagen stehen Mistral-Einweisungen auf dem Programm. Ich mache dabei auch mal zwei Starts pro Tag, um den Interessierten die Einstiegsmöglichkeiten in die Wellensysteme zwischen Lure und Pic de Bure zu zeigen.

Meteo-Ausnahmezustand...
Das gesamte segelfliegerische Programm kommt während unserer Ferien vor. Bei einem Flug in den Raum Gap werden 1'500 Meter nie überstiegen, ein andermal flieht die ganze Schänner Expedition vor einer nahenden Gewitterfront. Vier Piloten entscheiden sich dafür, in der Luft zu bleiben und müssen nach mehrstündigen Warteschlaufen am Ende sicherheitshalber in St. Auban zu Boden, während die andere Hälfte noch vor dem Gewitter in Vinon landet. Dabei ist zu erwähnen, dass nur dank raschem Eingreifen und viel Teamwork Schäden vermieden werden. Während Ernst seinen ‚5’ dank Fridlis Hilfe noch trocken in den Hänger bringt, hat ein Pilot aus Buttwil kein Glück (vor allem keine Helfer). Die heftige Böenwalze des Gewitters wirft seine für wenige Minuten allein gelassene Pégase auf den Rücken und zerbricht sie. Von der Schänner Expedition sind abends allerdings alle trocken und ohne ein ‚Chribeli im Chassis’ wieder glücklich in Vinon au lac vereint.

Soupe du poisson...
Zu den täglichen Höhepunkten gehört der abendliche Erfahrungsaustausch in der lokalen Gastronomie. Schon die Fahrt zum Restaurant ist ein Erlebnis. Frankreichs AutomobilistInnen scheinen mehrheitlich suizidgefährdet zu sein – kein normaler Mensch würde sich so schnell in so alten Klapperkisten über die ruppigen provençalischen Strassen bewegen. Darüber hinaus sind die Sonnenuntergänge beinahe so farbenprächtig wie im Süden Afrikas. Die kulinarischen Erlebnisse (Fischsuppe) werden nur noch durch die ‚Aussenwerbung’ eines ‚Escort-Services’ an strategisch wichtigen Stellen (T-Shirts der Bedienung) übertroffen. Das reicht zusammen mit der französisch gehaltenen Speisekarte, den erwähnten SchleppilotInnen und den Segelflug-Erlebnissen aus, um unsere Sinne vollends zu vernebeln. Dem lokalen Weinangebot mag dies im Gegensatz dazu trotz unserer mitgebrachten Weinfachleute nicht immer gelingen. Die ausländischen Winzer aus Italien oder Übersee haben während der letzten Jahre einheimische Produkte hinter sich gelassen.

Unserer guten Stimmung tut dies keinen Abbruch. Nach zehn erlebnisreichen und unvergesslichen Tagen in einem der nächstgelegenen Segelflug-Paradiese machen wir uns mit einem breiten Grinsen im Gesicht zufrieden auf den hindernis- und baustellenreichen Heimweg in die Schweiz. Es geht das Gerücht, dass mancher Teilnehmer während der segelflug-abstinenten Wintertage mitten in der Nacht an seinem Computer überrascht wurde. Es heisst, jene blaue CD mit über 500 Photos und einer eigens angefertigten Slideshow tröste während Monaten über die Sorgen des Alltages hinweg. Gewarnt wird vor unerwünschten Nebenwirkungen. Sie mache süchtig...

Teilnehmer

Heinz Brem, Martin Haller, Albert Götz, Walter Götz, Fridli Jacober,  Martin Karrer, Hans Reis, Peter Schmid, Beat Straub, Max Weber, Karl Wickli, Ernst Willi

Benutzte Aufwinde (Zahl in Klammer = Meter pro Sekunde):
Osten der Region: Greoux, Abfalldeponie, (1.5). Valensole, Südkante alter Flugplatz (1.8). Stausee südlich Puimoisson (2.0). Puimoisson, westliches Flugplatzende (1.2). Plateau vor der Serre de Montdenier, Stonehenge-Steinkreise (2.8). Coupe (2.0). Parcours (2.0). Mont Guillaume (3.0). Tête de Lucy (3.0). Tête d’Amont (3.5). Crête des agenaux (3.5). Crête de peyrolles (2.0). Barrage Rochemolles (1.5). Col d’Etache (1.5). Pic de Rochebrune (3.0), Prachaval (0.0 !). Grand Bérard (3.5). Chapeau Gendarme (3.5).

Westen der Region: Lubéron, Lac des roteurs (4.5). Mourre nègre (3.5). Forcalquier, Sternwarte (2.5). Lure, Steinbruch südlich Lure-Gipfel (2.0). Vallée du Jabron (4.5), Col de Tourettes, Nähe Rosans, (2.5). Montagne de St.Genis, Montrond (2.5). Céuse (2.5). Tête de Jarret, zwischen Veynes und Pic de Bure (2.5). Pic de Bure (3.0). Pic de Chabrières, Skigebiet westlich Guillaume (1.5). Val Gaudemars (1.5). Mont Colombis (2.0). Gache (1.5). Vaumuse (2.5). Crête de Liman (2.5). Blayeul (2.5). Cousson (1.8). Beynes (1.5).

Maximale Höhe: 4'500 Meter, Barrage Rochemolles.



Der Einstieg zum 'Parcours des combattants': die Felsrippen des Montagne de coupe.

Sturmflug

Föhnflug am 2. April 2009


Was mir vor einem Streckenflug-Vorhaben kurz vor dem Verlassen der sicheren Umgebung zuhause so alles durch den Kopf geht! Bevor ich in den Wagen steige, werfe ich noch einen kurzen Blick ins Kinderzimmer. Deborah, mit zehn Jahren unsere Kleinste, schläft noch selig den Schlaf der Unschuldigen. Ihr friedliches Gesicht mahnt zur Vorsicht: ‚Ich brauche Dich noch und erwarte, dass Du am Abend wieder gesund und munter hier stehst’...scheint sie mir wortlos mit auf den Weg zu geben.

Link zur Dia-Show 'Sturmflug'. Fotos: Marc Angst.



Lauter Bettflüchtige.
Auf dem Flugplatz treffe ich um sieben Uhr morgens eine fleissige Gruppe von Segelflug-Enthusiasten, als ob der Segelflug nächstens verboten würde. René Lüscher, unser Obmann mit seinem Gspänli Roland Hürlimann, den Sportchef der SG Lägern, gehen vorbildlich voran. Markus von der Crone, der Finanzchef des Schweizer Wetters, ist auch schon an der Arbeit an einer der beiden neuen ASG-29 unserer Segelfluggruppe; Armin Hürlimann als Schänner Föhn-Urgestein räumt mit seinem CoPi Urs Oettli den Hangar und ‚seinen’ Janus aus. Beat Gassmann ist so früh aufgestanden wie sein Flugzeugpartner Renato Späni, der sich heute mit einem ebenso jugendlichen Copi im neuen Duo X auf den Weg macht. Fehlt nur noch Jürg Haas in der Aufzählung. Er macht seine ASW 27 starklar.

Sportlicher Vorsprung

Beim Start lassen wir Schänner am Sonntag jeweils aus Rücksicht auf die katholische Mehrheit in der Linthebene sowie aus sportlichem Respekt gegenüber unseren Kollegen aus Hausen am Albis einen gebührenden Vorsprung und starten erst nach neun Uhr mit zwei bis drei Stunden Rückstand (kommt von Rücksicht). Das bedeutet, dass wir erst mal alle zusammen gemütlich in der Flugplatz-Beiz frühstücken. Um neun Uhr spickt mich dann der unverwüstliche Paul Kläger mit ebensolchem Turbo-Bravo in Kürze auf 2'300 Meter hinauf. Schon in der ersten Kurve tropft es mir auf die Haube, die Optik nach Westen ist trübe. Verschiedene Schauer gehen in der Linthebene nieder. In der Flugplatz-Gastwirtschaft werden sie die Tischtücher heute wieder früh einräumen müssen. Man muss das, was wir hier machen, wirklich wollen, denke ich mir diesen Morgen zum wiederholten Male.

Ich schleppe etwas unsportlich hoch hinauf und gleite dann mit meinem Höhenpolster direkt an die Churfirsten. Die nächste Kurve mache ich eigentlich erst in Klosters. Bis dahin tragen nämlich alle Kreten wunderbar, es braucht keine echten Kreise, gelegentliches Hochziehen der Flugzeug-Nase bis kurz vor’s Abreissen reicht vorderhand. Im Raum Vorarlberg ist die Wetteroptik ungemütlich düster. Da wollte ich aber eigentlich hin. Kaum erkennbare Rotorfetzen und Thermik ist bei dieser Wolkendichte nicht vorstellbar. Dass es trotzdem an den Hängen getragen hätte, zeigt die OLC-Flugauswertung am andern Abend. Aus Österreich flitzen unsere Kollegen um diese Zeit schon um alle Grate durch Westösterreich.

Keine Experimente.

Ich entscheide mich das erste Mal heute gegen Experimente, wende in Monbiel und mache mich auf den heller scheinenden Weg nach Westen, obwohl ich Jojo-Flüge mit zu vielen Wendepunkten nicht mag. Der feuchte Südwind zeigt die Wellen-Einstiege deutlicher als üblich. So fällt es leicht, im Prättigau vom Hang in die Welle zu steigen und sie dann bis Grindelwald nicht mehr zu verlassen. Unterbrochen wird dieser Geradeausflug nur von einer ATC-Clearance für die Luftstrasse A9 am Klausen und von ziemlich ungemütlichen Turbulenzen. Zeitweise habe ich in den Glarner und Urner Alpen auf 4'000 Metern den Eindruck, mein Flieger werde zusammengefaltet. Bei einem der Hausener Kollegen muss der Notsender wegen der Schüttlerei in der Luft losgegangen sein. Jedenfalls steht das so am Montag in der Zeitung mit den grossen Buchstaben und vielen Bildern. Mittels Suchhelikopter kann der Notsender aber problemlos auf dem Flugplatz Hausen geortet werden...

Brettljause.

An der Kingspitze drehe ich die Nase unserer schon etwas betagten, aber noch immer agilen ASW-20-B nach Osten und lasse mich im Geradeausflug wieder zurück durch die Rotoren schütteln. Nördlich des Titlis bläst mich ein Rotor dermassen nach oben, dass der Föhn im Flugzeug buchstäblich laut vernehmlich durch die Ritzen pfeift und mir im Steigflug die Ruderwirkung verloren geht, obwohl ich mit mehr als 120 km/h fliege. Hier fliegt es ja gar nicht mehr richtig! Ab dem Pizol beruhigt sich dann die Lage deutlich. Zeit, in der gemütlichen Schesaplana-Welle über dem Brandnertal in Ruhe eine Vorarlberger Brettljause einzunehmen. Bis ich das brasilianisches Gedärm von meiner Schweizer Nationalwurst geschält habe und gleichzeitig den Sauerstoffschlauch um Nase und Ohren gewickelt habe, falle ich allerdings fast aus der Welle.

Kann man unter 1'500 Metern fliegen?

Die hier gewonnene Höhe reicht, um in mehreren hintereinander liegenden Wellensystemen über den Arlberg, Landeck bis an die ‚Hohe Munde’ zu gleiten. Ab hier verlasse ich nur ungern das wegen seiner gemütlichen Fliegerei und der gigantischen Optik fast süchtig machende Wellenfliegen über 4'000 Metern und sinke eine Etage tiefer, um kreislos, dafür wieder erheblich holpriger den Hängen des Karwendels entlang bis über den Rofan hinaus zu rauschen. Herrlich, wie man dabei mit Rückenwind vorwärtskommt. Bei Kramsach (zwischen Achensee und Kufstein) entscheide ich mich erneut gegen Experimente und fliege nicht weiter an den Wilden Kaiser. Hier ist das Inntal wegen seiner Ausrichtung parallel angeströmt, der Südwind kanalisiert und entwickelt kaum gescheite Hangaufwinde. Das führt fast unvermeidlich zu einem Tiefpunkt im Raum Elmau / St. Johann. Erneut hält mich dieser Gedanke und die trübe Optik von einem Weiterflug ab. Ein andermal, wenn ich am kommenden Tag keine Termine im Geschäft habe, werde ich weiterfliegen. Unsere österreichischen Gspänli beweisen nämlich einwandfrei, dass man auch unter 1'500 Meter segelfliegen könnte, obwohl wir in Schänis öfters den Eindruck haben, das sei unmöglich oder bestimmt unseriös.

Bloss nicht kreisen.
Zurück geht’s im Eiltempo gegen den Wind den Kreten entlang. Die Hänge sind gut vom Südwestwind angestrahlt, bis nach Imst ist Kreisen wenig sinnvoll, sofern man sich im oberen Drittel der Kreten aufhält. Gewonnene Höhe liesse sich mit Kreisen oder andauerndem Aufziehen ineffizienter in Distanz umsetzen als wenn man direkt in der Südströmung über der Hänge braust. Dazu ist oben der Gegenwind stärker und bremst unnötig.

Nachdenken im Hangflug – doch noch kreisen.

Der Einstieg in das parallel vom Südwest angeströmte Tal zwischen Imst und dem Parseier gelingt mir leider wieder einmal nicht ganz ohne Zittern. Ich habe im Raum Imst zuwenig Geduld mit der etwas unübersichtlichen Rotoren-Auslegeordnung und gerate deutlich unter die Kreten. Eine davon rettet mich dann doch auf 1'900 Metern unten mit einem sanften, ruhigen Heber und lässt mir bei 0.5 Meter Steigen etwas Zeit zum nachdenken. Nach ein paar Achten am Hang geht mir aber erneut die Geduld aus. Ein paar Hundert Meter weiter nimmt das Steigen am Hang deutlich zu und trägt mich mit einem ruhigen, starken Aufwind rasch nach oben. Diesmal habe ich Geduld und steige am Ende vom Hang direkt in eine dünne Welle. Die verlasse ich erst auf 4'500 Metern nach Westen, allerdings inzwischen über den Wolken und nur noch mit etwa zwei Achteln Bodensicht. Auch nicht gerade gemütlich, zwischen all den Wolkenbändern.

Monsterwelle nördlich der Schesaplana

Die Höhe reicht aber problemlos, um im Arlbergtal zwischen den Wolken ein Aufwindband zu finden und komfortabel ins Vorarlberg zu entwischen. Dort steht über der Schesaplana ein Ungetüm von einer Wolke, wie ich es erst einmal an der Lure gesehen habe. Drüber geht ganz sicher nicht. Drunter ist wohl der Wasserfall. Als umfliege ich das Monster im Norden. Diesmal habe ich Glück und erwische das nächste Wellensystem, das an feinen Rotorfetzen als Linie vom Itonskopf über den Gonzen bis nach Schwyz hinüber erkennbar ist. Der Einstieg ist bei der Zimbaspitze. Zeit für die zweite Brettljause. Bis alles weggeputzt ist, bin ich im gemütlichen Geradeausflug bis zum Walensee vorgestossen. Ab hier geht die Schüttlerei in den Rotoren wieder los. Sie hält mich davon ab, weiter als nach Schwyz in den Westen zu fliegen.

Rotoren. Rotoren. Rotoren.
Die Bewölkung nimmt hier bis auf völlige Abdeckung zu, die Rotoren geben alles, um mich wie einen Papierflieger auf und ab zu werfen. Um die noch immer respektable Höhe loszuwerden, gleite ich zurück bis nach Landquart und lande nach knapp acht Stunden Flugzeit um 17.00 Uhr in Schänis.

Die in diesem Jojo-Flug zurückgelegte Distanz beträgt 845 km, die Durchschnitt-Geschwindigkeit liegt dank der langen Geradeausflüge im Hangwind und in den Wellen bei 112 km/h. Nächstes Mal müsste eine vierstellige Zahl Kilometer auf dem Tachometer stehen, wenn die Verhältnisse wieder ähnlich sind. Nimmt man die zwei katholischen Stunden am Morgen und jene drei am Abend dazu, welche ich diesmal nicht verwendet habe, sind mehr als 1'000 km sicher auch für mich möglich. Sofern ich irgendwann dran glauben lerne, dass man auch unter 1'500 Meter fliegen kann...

Montag, 22. November 2010

765-km-Dreieck über den französischen und Schweizer Alpen

Am Samstag, 26. Juni 2010 gelingt ein Flug, von dem ich seit Jahren und kurz davor noch dachte, er sei für mich ausser Reichweite. Möglich wurde er durch die lange Tageszeit Mitte Jahr und den frühen Thermikbeginn. Bereits um 10.15 Uhr hing ich hinter dem Schlepp-Flugzeug. Exakt zehn Stunden später setzte ich in meiner 25jährigen ASW-20-B wieder auf den heimischen Asphalt in Schänis zur Landung an. Dazwischen lag ein Segelflug um die Wendepunkte Le Casset im französischen Ecrins-Massiv sowie den Piz Quattrvals im Unterengadin.

Frühstart.
An diesem Samstag habe ich ‚Ausgang’. Heinz Brem braucht unsere ASW-20-B das ganze Weekend über nicht und zuhause beschäftigen sich alle anderweitig mit Baden und Einkaufen. Ich werde also sicher nirgends gebraucht. So mache ich mich schon frühmorgens auf nach Schänis, nicht ohne kurz in die Thermikprognosen geblickt zu haben. Die neu entdeckten digitalen Helfer bringen mich heute auf die richtige Fährte. ‚Streckenflug.ch’ kündigt gute Thermikverhältnisse über den Schweizer- und französischen Alpen an. Fast deckungsleich schätzen die österreichischen Meteorologen die Situation ein. Ich programmiere also etwas frech meinen Logger und den PDA mit den erwähnten Wendeorten.

Schon vor dem Briefing aufgefüllt.

Die ASW ist bei bereits ungemütlich warmen Temperaturen schnell montiert, schon vor 09.00 Uhr steht sie mit 40 Litern Zusatz-Wasserballast startbereit auf dem Rollweg. Zeitweise erschrecke ich über den eigenen Mut – spätestens, als Markus von der Crone nach meinen Absichten fragt und offensichtlich staunend die Stirn in Falten legt. Progressiv, wie er ist, will er aber den Versuch ebenfalls wagen. Er hat den Vorteil, beim Briefing eine ASG-29 erwischt zu haben. Der Flieger gleitet gefühlte 20% besser als meiner. Mit dem Wasser sollte sich der Schaden in Grenzen halten. Klar ist, dass ich deutlich schlechter steigen werde als er, allerdings sollte das bei den heute prognostizierten Steigwerten handhabbar bleiben.


Siehst Du den Kärpf am Morgen... dann fliegst Du ohne Sorgen.
Die ersten Thermikanzeichen bilden sich schon um Viertel vor Zehn. Ich will aber mit meinem Wasserbomber keinen unnötigen Absaufer riskieren und stehe erst etwas später startbereit auf der Piste. Der erste Aufwind hält aber, was die entstehenden Cumulus-Fetzen versprechen. Er bringt mich trotz des Zusatzgewichtes rasch auf Abflughöhe über den Panixerpass. Heute kommt auch der Kärpf für einmal ins Spiel. Seine Ostseite produziert an der richtigen Stelle Aufwind, stolz kann ich den Gipfel, auf dem ich wie die Bergsteigergruppe, die von Elm aus auf die Spitze zuklettert, ebenfalls zahllose Male zu Fuss unterwegs war, nach ein paar Kreisen übersteigen.


Im Vorderrheintal hängt die Bewölkung zwar auf etwa 2'700 Metern, dafür grossflächig auf der sonnigen Nordseite verteilt bis nach Disentis hinauf. Erst bei Trun falle ich soweit unter die Kreten, dass ich es vorziehe, Höhe dazuzunehmen. Etwas zaghaft steigt der Flieger anfangs dem Granit-Grat entlang, erst als ich beginne, auf der Ostseite nahe die Felsen zu fliegen, klettern die Steigwerte auf drei Meter pro Sekunde und spülen mich an die Wolken-Unterseite hinauf. Inzwischen fährt Markus unter mir ein und dreht rasch hoch. Gemeinsam fliegen wir im Parallelflug über den Oberalp und kreislos bis an die Furka, immer schön den Kreten entlang. Die ASW hält sich im Vergleich zum grösseren Bruder einwandfrei – solang ich sie geradeaus fliegen lasse. Im Steigen zeigt sich wie erwartet ein deutlicher Unterschied. Trotzdem kann ich dranbleiben. Bis ans Eggishorn fliegen wir gemeinsam, dort trifft Markus etwas früher ein und den Aufwind besser als ich und steigt weg. Er wird auf der Nordseite des Wallis weiter fliegen. Die Wolken hängen da für meine Begriffe etwas unstrukturiert und müde wie nasse, weisse Tücher an den Hängen. Ich nehme über der Bettmeralp und dem Ende des Aletsch-Gletschers an Höhe mit, was ich kann und quere dann auf die Südseite ins Simplon-Tal. Da hängen einzelne Cumuli deutlich höher als die anderen zerfransten Wolkenfetzen. Allerdings ist ihre Herkunft, die Wärmequelle unklar. Bis hierhin ging’s eigentlich ganz gut voran – so früh war ich noch nie im Wallis.


Hangfliegen über dem Simplon.
Der Einstieg in die nächst höhere Etage gestaltet sich wie erwartet nicht einfach. Ich brauche etwas Zeit, um am Osthang der Simplonstrasse – eigentlich schon auf der Südseite der Alpen -  im teilweise turbulenten Hangflug über den Gipfel steigen zu können. Ein kahler, voll in der Sonne stehender, langer Bergrücken hilft mir dann aber weiter. Nach etwa zehn Minuten und mehrfachen Zentrierversuchen schaffe ich es endlich, die Gipfelhöhe zu ersteigen und fliege mit dieser Höhe dann direkt in die Matter-Täler hinein. Weil ich so früh dran bin, sind die Aufwinde etwas ungewohnt auf der Ost-, statt auf der Westseite des Tales. Die Wolken kleben weit unter den Gipfeln, tragen aber immerhin zuverlässig, wenn auch nicht berauschend gut. Überhaupt habe ich in der letzten halben Stunde den Eindruck, kaum in die Höhe zu kommen. Ich habe Schwierigkeiten, die Aufwinde zu treffen und dann im vertrauten Tempo zu steigen, obwohl ich das Flugzeug mit hoher Querlage, voll nach hinten getrimmt und einem voll gezogenen Höhensteuer fliege.


Swimming-Pool auf 2'000 Metern.
Auf einer Felsrippe bei St. Niklaus im Mattertal blinkt mich fröhlich ein blauer Fleck an. Da hat doch tatsächlich ein waghalsiger Walliser über der Waldgrenze bei seinem Ferienhaus einen Swimming-Pool aufgestellt. In völlig exklusiver Lage mit Breitbild-Panorama auf die Mischabel-Gruppe!


Mit allerhand Mühe und mehreren Zentrierversuchen komme ich hoch über dem Schwimmbad endlich über den Grat und fliege Richtung Val d’Anniviers weiter. Mit der Absicht, mitten durch die Walliser Viertausender den Grand-St.-Bernard zu erreichen und letztlich ins Val Tournanche zu gelangen. Markus zieht über mir zielstrebig nach Süden weg Richtung Matterhorn. Er will offenbar bei der Schönbiel-Hütte die hohen Pässe ins Valpelline überqueren. Ich habe mich gegen diese Streckenwahl entschieden, weil diese Übergänge häufig aus Süden mit Feuchtigkeit zugestaut sind. An den hohen Passübergängen nach Italien bin ich mehr als einmal ‚aufgelaufen’ und dann in der hohen Walliser Gletscherwelt in der Region Obergabelhorn zwischen tiefer Wolkenbasis und den hohen Pässen festgeklemmt gewesen. Deshalb will ich mit weniger Risiko etwas nördlicher, weniger in der Gletschwelt, Richtung Grand-St.-Bernard vorwärtsfliegen. Dabei nehme ich allerdings in Kauf, die schlechter eingestrahlten Osthänge der Walliser Seitentäler abfliegen zu müssen.

Knapp über die Gletscher direkt in den Stausee.
Und genau so passiert es dann. Markus fliegt nach einigem Abwarten und mit Geduld direkt ins Valpelline und kommt dort über den voll eingestrahlten Nordhängen rasch Richtung Aosta vorwärts. Derweil kämpfe ich über Zinal mit schwachen Aufwinden und auch etwas mit meinem schweren Flieger, der nicht so recht steigen will. Etwas progressiv schleiche ich mich am Ende die Gletscher hoch, um über dem tiefsten Übergang doch ins Valpelline zu fallen. Tief ziehe ich über die letzte Krete und stürze sozusagen in den Stausee im Valpelline. Hier ist erst mal Hochklettern gefragt. Ich fege wie eine Alpendohle rund um die Kreten in guten Steigen, das über der Krete noch viel besser wird. Ab jetzt ist endlich wieder ein etwas entspannterer Flugstil mit ausreichend Luft unter dem Rumpf angesagt.

Zwar hängen die Wolken im Valle d’Aoste tiefer als auch schon, dafür tragen sie doch zuverlässig und einigermassen kräftig. Über den Südhängen des Grand-St.-Bernard (den Berg kann ich mir nie merken, er heisst aber trotzdem Mont Falère) hole ich mit 3'500 Metern die maximal mögliche Höhe, um in die wilden V-Täler auf der Südseite des Valle d’Aoste einzufliegen. Das Val Savaranche, das Val de Rhême oder das Val Tournanche. Bei früheren Gelegenheiten auf den Flügen ab Vinon habe ich öfters erlebt, dass ich die Aufwinde über den zackigen Granitgraten nicht recht zentrieren konnte. Um heute kein Risiko mit einem zu tiefen Einflug einzugehen, fliege ich einen kleinen Umweg ins Val Tournache. Dort ist der Einstieg etwas einfacher, weil die Nordkreten flacher sind, einige tiefe Sättel aufweisen, über denen man wesentlich einfacher in die Thermik einkreisen kann. Genau so funktioniert es dann auch. Ich komme problemlos an die Wolkenbasis hinauf. Das reicht, um knapp über die Kreten den Pass ins Val d’Isère zu flitzen. Dahinter lockt ein prächtiger Cumulus-Himmel. Hohe Basis, vermutlich fast 4'000 Meter, schwarze Wolkenböden und viel Sonne.


Viel italienische Feuchtigkeit im Modane-Tal.
Markus ist inzwischen davongezogen und meldet sich bereits in der Region Bardonnecchia. Er steigt klar besser und ist mit der ASG-29 eindeutig schneller unterwegs. Das tut aber meiner Freude über den starken Aufwind zuhinterst im Val d’Isère keinen Abbruch. Wie auch früher schon trägt er zwar etwas rumplig, aber zuverlässig bis auf über 4'000 Meter hinauf. Von hier oben ist die Welt bereits etwas runder, zuversichtlich fliege ich ins hinterste Modane-Tal ein. Den Charbonnel lasse ich ausnahmsweise aus. Seine Wolkenbasis ist etwa gleich hoch wie ich im Geradeausflug bereits bin. Unter mir fliesst über den Col du Mont-Cenis wie immer die feuchte Luft aus Oberitalien ins Modane-Tal ein. Die feucht-stabile Luft erschlägt in den tieferen Lagen jegliche Thermikbildung. Nur in den obersten Seitentälern, welche dieser feuchte Teppich wegen der markanten Geländerstufen nicht erreicht, bilden sich starke Aufwinde, die am Charbonnel z.B. bis auf über 4'000 Meter hinauf tragen. Das ist meistens die höchste erreichbare Höhe weitherum. Normalerweise nehme ich hier jeden möglichen Meter mit und fliege damit bis an den Lac de Serre-Ponçon, um dann über den Parcours des combattants ohne überflüssige Kreiserei bis nach Vinon zurückzufliegen.


Heute haben wir aber andere Pläne. Der Wendepunkt im Tal des Galibier erscheint zaghaft auf dem kleinen Bildschirm meines PDA - auch Mäusekino genannt. Bardonnecchia hat leider auch keine zuverlässigen Aufwinde produziert. Die feuchten Tücher hängen überall über den Sonnenhängen, aber sie tragen nicht. Weder am Col d’Etaches, noch bei der Barrage Rochemolles, noch über Bardonnecchia. Die müde Luft aus dem Süden hat von der ganzen Region Besitz ergriffen. Überhaupt wird es feuchter, je weiter ich nach Süden fliege. Die Kollegen aus Vinon dürften es heute schwer haben, hierher zu kommen. Seltsam, dass man von Schänis aus an manchen Tagen leichter nach Plampinet kommt als von Vinon aus.

Nachmittags um Drei geht’s wieder heimwärts.
Das Briançonnais ist etwa zu fünf Achteln mit auseinanderlaufenden Cumulanten zugedeckt, produziert aber dennoch gute Aufwinde, wenn man sie findet. Ich habe wie immer Mühe damit, unter breiten, dicken Wolken das Aufwind-Zentrum zu finden, komme aber mit etwas Geduld doch um den geplanten Wendepunkt bei der Skistation Serre-Chevalier im Galibier-Tal. Und besonders erfreulich: ich habe erst noch meinen Zeitplan einhalten können. Um 15.00 Uhr wollte ich in den französischen Alpen wenden, um die Chance zu wahren, abends rechtzeitig wieder in Schänis zu sein. Nach Süden sieht’s nicht besonders gut aus. Die Feuchtigkeit hängt bis weit unter die Kreten, der Morgon steht ‚im Wasser’. Markus hat kurz zuvor in der Region St.-Crépin gewendet und macht sich auch wieder auf den Heimweg.

Der führt mehr oder weniger auf derselben Route wieder zurück. Mit dem Unterschied, dass ich den Charbonnel-Aufwind diesmal mit einigen Optimierungsversuchen von zuunterst bis zuoberst nutze, um problemlos zwischen den feuchten Fetzen aus dem Süden über den Nivolet-Pass ins Val de Rhèmes zu gelangen.

Nach Cervinia wollte ich eigentlich gar nicht.
Bis ins Valpelline geht’s dann zügig voran. Dort passiert mir dann aber doch noch eine Überraschung. Weil das Matterhorn nicht erkennbar bis zum Sockel in der Feuchtigkeit steht, erkenne ich nicht, was ich da für einen Berg auf dem Weg nach Osten vor mir habe! Lange versuche ich mir einen Reim zu machen, ob es gescheiter ist, auf der Nord- oder der Südseite an diesem sperrigen Teil vorbeizukommen. Ich entscheide mich aufgrund der hohen Übergänge und der vielen Gletscher zum zweiten Mal am heutigen Tag für einen Umweg – diesmal nach Süden. Hinein in die feuchte, aufwindlose Suppe. Erstaunt nehme ich ein paar Minuten später zur Kenntnis, dass ich in den Kessel von Cervinia eingeflogen bin. Der hat den Nachteil, dass er gegen Norden von hohen Pässen abgeschlossen ist und heute keine Aufwinde produziert, die so hoch reichen würden. Zum Glück bin ich im Valpelline in den schwachen Aufwinden so hoch wie möglich gestiegen. Dieses Polster reicht nun gerade, um auf der Leeseite über die Krete an der Testa-Grigia ins Mattertal zu fallen. Dort tragen dafür wieder alle Hänge, das Talwind-System funktioniert.

Die tragen mich bis an den Gornergrat, wo ich auf Höhe der Bergstation wieder in die Aufwinde einfädle. Ich brauche einige Zeit, um die zwar starken, aber engen und unkonstanten Aufwinde zu erwischen. Nach fast einer Viertelstunde bin aber auch ich endlich wieder über 4'000 Meter. Diese Höhe reicht, um direkt ins Saaser Tal an den Weissmies zu wechseln.

Wo ist denn jetzt der Aufwind?
Normalerweise produzieren die Steinwüsten-Kessel auf der Westseite des Weissmies sehr starke Aufwinde. Heute vermutlich auch. Jedenfalls hängen die Gleitschirme in astronomischen Höhen. Da hinauf möchte ich auch – das wäre der elegante Einstieg in einen langen Gleitflug bis ins Vorderrheintal. Das will aber gar nicht klappen. Einen Aufwind erwische ich, der ist mir aber zu wenig, offenbar steigen andere (Gleitschirme) besser aufwärts. Also wechsle ich dorthin. Wie immer geht das auch diesmal schief. Ich treffe die aufsteigenden Luftblasen schlecht bis gar nicht. Also doch wieder zurück, dorthin, wo ich angefangen habe. Einige Minuten eiere ich so am Weissmies hin und her, bis ich trotz der wunderschönen Kulisse um mich herum leicht erzürnt über mich selber, dafür mit voll gezogenem Knüppel und der Trimmung am hinteren Anschlag mit einer irren Querlage endlich eine der Blasen erwische und sie ausdrehe. Sie trägt mich dann wieder auf die erhofften 4'000 Meter hinauf. Uffhh!. So, das reicht, um komfortabel ins abgeschiedene Binntal und weiter an die Furka zu fliegen. Unterwegs treffe ich Reto Frei mit seiner schönen ASW-19 auf einem Ausflug ins Wallis.

In Graubünden läuft alles auseinander.
Über der Furka nehme ich zusammen mit einem anderen Segler nochmals mit, was ich kann, um danach direkt und hoch über den im Urserental liegenden Wolkenfetzen über den Oberalp ins Vorderrheintal zu gelangen. Bis ins Lukmanier-Tal ist dann allerdings wenig bis nichts zu holen. Die Optik auf Kurs sieht nicht berauschend aus. Alle Wolken laufen auseinander, die Gegend bis Klosters scheint abgeschattet. Im Valsertal muss ich mich von meinem Wasserballast trennen. Es macht keinen Sinn, das zusätzliche Gewicht mitzuschleppen. Die Aufwinde sind zu schwach. Ich kann nur ohne Wasserballast überhaupt noch steigen. Das geht dann dafür angesichts der schattigen Optik erstaunlich gut. Über Andeer und Savognin, mitten über dem Tal, wo üblicherweise keine Aufwinde zu finden sind, kann ich tief den Hang über Tiefencastel anfliegen. Der ist noch an der Sonne und produziert eine schöne, fette Wolke. Die winde ich bis zuhinterst aus. Von hier oben fehlt es dann zwar etwas an Übersicht. Was ich sehe, stresst mich dann doch etwas.

Unerreichbare zweite Wende.
Das ganze Unterengadin liegt im Schatten. Ein grosser Schauer geht von Zernez aus über das Prättigau bis nach Arosa nieder. Über meinem zweiten Wendeort, dem Ofenpass, ist alles ‚im Dunkeln’. Trotzdem fliege ich noch an den Quattrvals. Der hat in der oberen Hälfte noch etwas Sonne auf den steilen Hängen. Ich kann tatsächlich ein paar Hundert Meter dazugewinnen. Aber auf 3'400 Metern oben ist endgültig Schluss. Höher geht es heute hier trotz aller Bemühungen nicht mehr. Etwas weiter südlich, über Livigno, scheint fleckenweise noch die Sonne an den Boden – ein Einflug in diese Gegend ist aber mit meiner Höhe ein erhebliches Risiko. Ebenso wie ein Versuch, die distanzmässig eigentlich sehr naheliegende zweite Wende über dem Opfenpass noch zu umfliegen. Für den Hin- und Rückflug würde ich mehr als 500 Höhenmeter benötigen. D.h., am Piz Quattrvals, der immer mehr im Schatten steht, käme ich womöglich nicht mehr hoch. Das jetzt noch sonnige Oberengadin stünde dann sicher auch schon im Schatten der überall niedergehenden Schauer und der schöne Flug wäre in Samedan verfrüht zu Ende.

So entscheide ich mich, meine Höhe zu investieren, um die ausserhalb des Schauers über dem Prättigau stehende Region Arosa und damit Schänis zu erreichen. Das gelingt dann auch. Mit minimaler Höhe rausche ich über die Krete ins Sertigtal, kurz vor der Krete geht es mit mir einen Wasserfall hinunter. Offensichtlich funktioniert das Talwindsystem auf der Nordseite noch, obwohl es rundherum schauert. Das niedergehende Gewitter drückt wahrscheinlich die Luft von sich weg und in die hintersten Täler hinein. Über dem Südende des Sertigtales steige ich so komfortabel inmitten einer grossartigen Szenerie im Hangwind hoch über die Gipfel. Das reicht nun endgültig, um im Direktflug nach Schänis zu gleiten.

Das mache ich dann auch. Die Temperatur wird immer heisser, die Luft immer feuchter. Es ist, als würde ich unter eine Wärmedecke fliegen. Markus ist inzwischen ebenfalls im Endanflug. Er hat in Livigno gewendet und damit eine Distanz von 900 km erflogen. Das ist einer der längsten Thermikflüge, die je ab Schänis geflogen worden sind.

Ein genialer Tag geht mit einem ruhigen Endanflug nach Schänis zu Ende. Für mich war heute nicht mehr drin, ich bin soweit geflogen, wie es das Wetter zugelassen hat. Weder im Westen noch abends im Osten hätte man weiter fliegen können. Ein andermal hoffe ich, dass der Ofenpass abends noch in der Sonne steht und eine kleine Verlängerung bis an den Reschenpass zulässt. Wobei zu sagen ist, dass auch das nicht mal annähernd ausreichen würde, um thermisch ein sauberes 1'000-km-Dreieck ab Schänis fliegen zu können. Diese Distanz dürfte wohl für einen 15-Meter-Flieger unerreichbar bleiben.

Das Emagramm weist zwischen 3'500 und 5'000 Metern einige markante Brüche auf. Das erklärt die teilweise kaum auffindbaren und sich immer wieder in Nichts auflösenden Aufwinde im Wallis. Zeitweise hatte ich im Flugzeug den Eindruck, oben an einem Deckel den Kopf anzustossen.